Immer mehr Menschen zieht es hinaus in die Natur, weil sie das einfache Leben beglückt. Fernab der Flutlichter, wo die Luft rein ist zum Durchatmen, sei es nur für ein paar Stunden. Manche steigen ganz aus dem Hamsterrad aus, weil sie «Mäuse» allein nicht erfüllen: Sie tauschen Arbeit gegen Abenteuer.
Mein Haus, mein Auto, mein Smartphone, das pausenlos vibriert» – die wachsende Dichte an Möglichkeiten verkompliziert das Leben, sodass manch einer vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Der Drang nach draussen zu gehen, zurück zur Natur, keimt auf. Und damit der Herzenswunsch statt «up to date» einfach mal «offline» zu sein. «Haltet die Welt an, ich will aussteigen», denken viele, wenige sprechen es aus. Auszeiten, gerade berufliche – «Sabbatical» genannt – liegen im Trend. Spross dieses Zeitgeists ist zum Beispiel das neue Männermagazin «Walden», das sich mit dem Weckruf «Die Natur will dich zurück» an abenteuerlustige Naturburschen wendet. Das neue Blatt ist inspiriert von «Walden», dem Buch von Henry David Thoreau aus dem Jahr 1854, das zur «Bibel für Aussteiger» avancierte. «Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich … alles Mark des Lebens in mich aufsaugen …», schrieb der US-Amerikaner. Er kehrte der industrialisierten Massengesellschaft der jungen USA den Rücken und zog sich für über zwei Jahre in eine Blockhütte im Wald zurück. Von einer Blockhütte, abgeschieden in den Laubwäldern Kanadas, wo sich Braunbären und Eulen «Gute Nacht» sagen, träumt auch Andres Gerber. «Wahrscheinlich wegen den Lassie-Filmen», schmunzelt der Sportchef des FC Thun. «Natürlich geniesse ich ein 5-Gang-Dinner, aber ich brauche es nicht. Ich bin ein gemütlicher Mensch, der das Einfache schätzt.» Ferien mit seiner Familie verbringt er vorzugsweise im gemütlichen Ferienhaus mit Eckbank und Kamin – das erinnere ihn an seine Kindheit. Aufgewachsen ist er in Belp, wo auch seine fussballerische Karriere ihren Kick bekam. Je älter er wurde, desto ebenere Wege fand er, sich zu «erden»; diese führten ihn ins Grüne. «Die Ruhe, die Gerüche und Geräusche geben mir sehr viel.» Dem Ruf der Natur folgt er zum Beispiel mit einer Joggingrunde im Wald oder mit einer Wanderung an den Oeschinensee. Kehrt er in einer Beiz ein, bestellt er Rösti und Spiegeleier.
Andres sitzt und sinniert gerne am Lagerfeuer, das er selbst entzündet hat –selbstverständlich! «Dieser Instinkt ist tief in mir verwurzelt. Ein echter Mann muss Feuer machen können, das gehört einfach dazu. Aber wahrscheinlich hat meine Vorstellung das Verfallsdatum erreicht», vermutet der ehemalige Profi-Fussballer und kräuselt nachdenklich die Stirn. Bei der jüngeren Generation, die «lieber an einem Kästchen rumdrückt als auf einen Baum klettert», merke man, dass «Überleben» auch vom Bürostuhl aus möglich ist – per Mausklick. «Manch ein Kind kann heute nicht mal eine Blume von einem Baum unterscheiden», formuliert er überspitzt. Sein Sohn soll ein «echter Mann» werden, der Purzelbäume schlagen und Feuer machen kann. «Ich weiss zwar nicht, ob ich es richtig mache – jedenfalls brennt das Feuer», lacht Marco Bürki. Beim Stichwort «Lagerfeuer» denkt der Innenverteidiger an gemütliche Abende zurück, die er mit dem Hornusser-Verein verbracht hat; Hornussen war einst sein Hobby nebst dem Fussballspielen. «Abschalten gelingt mir noch nicht so gut», räumt der Münsinger ein, dessen Bruder Roman seit dieser Saison für Borussia Dortmund im Tor steht. Marco verspürt durchaus den Wunsch, sein Leben zu vereinfachen: «Ich überlege, mein Smartphone gegen ein altes Handy ohne Internetzugang einzutauschen.» Eine Auszeit? Dafür hat es in den Träumen von Marco Bürki keinen Raum; sie sind geprägt vom Ziel, einmal in einer englischen Elf zu spielen. Weit weg für die Karriere – für den 22-Jährigen eine ersehnte Chance.

«Aussteigen, das wäre eine Art Wegrennen gewesen», weiss Daniel Bernasconi nach seiner Auszeit. Hier spielt er das von Bernern erfundene Instrument «Hang» – «Hand» auf Berndeutsch.
Daniel Bernasconi: Vom Aus- zum Umsteiger Gegenteilig war es bei Daniel Bernasconi: Er ging weg, weit weg von der Karriere. Als junger Banker hat er Finanzlösungen für Superreiche geflochten, «russische Oligarchen und so», jettete zwischen New York und Hong Kong hin und her. Eine verlockend dynamische Welt für einen Mann Mitte zwanzig, der das Spiel der Macht beherrschte. Nicht so den Krawattenknopf. Zunehmend empfand er den Massanzug als Verkleidung und, als würde sich die Krawatte immer enger um seinen Hals schnüren, flüchtete er jedes Wochenende in die Berge. In der Stille fand er das andere Extrem zum lauten Alltag. «Eine schizophrene Situation», erinnert er sich. Nach einem Schlüsselerlebnis wurde ihm glasklar, dass er aus dem goldenen Käfig ausbrechen muss. Er wartete ab, bis sein Bonus fällig war – bereits auf dieser Stufe ein halbes Jahressalär. Beim Mitarbeitergespräch griffen die Vorgesetzten tief in den Honigtopf, doch das sollte nichts nützen: Daniel kündigte. Am letzten Arbeitstag verliess er die noblen Büros nicht gehend, sondern schwebend vor lauter Erleichterung. Die darauffolgenden zwei Wochen schlief er so gut wie durch, tief und fest wie ein Bär im Winterschlaf. Wacher denn je verhökerte Daniel sein Mobiliar im Internet: Startpreis 0 Franken, muss abgeholt werden. Seine Reise, für die es bewusst keinen Endtermin gab, begann im prosperierenden Istanbul. «Weil ich mir keinen Zeitrahmen gesetzt habe, ist der Druck, in bestimmter Frist etwas zu erreichen, und somit in alte Muster zu verfallen, weggeblieben», erklärt er. «Ich konnte mir vorstellen, nie mehr zurückzukehren.» Sein Streifzug, weg von der Gesellschaft, die fordernde Botschaften an ihn heranträgt, führte ihn unter anderem in ein Kloster in Sri Lanka, wo er in einem kargen Raum von 1.5 x 2 Metern wohnte. Drei Monate lang meditierte er, entzog sich dem gewohnten, reizüberfluteten Umfeld – und sprach kein Wort. Im Schweigen fand er Antworten: «Ich erkannte, dass ich auch ohne materiellen Wohlstand, ohne Boni, glücklich sein kann.» Rund drei Jahre zog er ruhelos umher, kam in Hippie-Kommunen unter, kehrte zurück in die Heimat, um kurz darauf wieder zu entkommen. Rückblickend fast ironisch, dass er in der Ferne gesucht hat, um Naheliegendes zu finden; Daniel unterrichtet heute Teilzeit als Lehrer am Gymnasium in Thun. Ohne Krawatte. «Man kann seine Einstellung nur durch eigene Erfahrungen ändern. Veränderung geschieht nicht auf rationaler, intellektueller Ebene», ist der 36-Jährige überzeugt. «Zuerst wollte ich aussteigen. Stattessen bin ich umgestiegen und habe mich vom Echo der gesellschaftlichen Erwartungen emanzipiert.» Wenn der Abenteurer in ihm aufmuckt, nächtigt er im Tipi-Zelt, das stets im Garten seiner Wohnung in Aeschi bei Spiez bereitsteht.
Die zwei Leben des Eric Alan Westacott Im Tipi hat auch Eric Alan Westacott-Hari ungezählte Nächte verbracht. Allerdings nicht auf dem Campingplatz, wie er es heute gerne tut, sondern bei den Indianern in Südamerika. Er streift die Blättchen des Zitronenmelissezweigs ab wie vor über 15 Jahren sein gutbürgerliches Dasein. «Man muss nicht wegen jedem Wehwehchen zum Arzt rennen», kommentiert er in Berndeutsch mit leicht englischem Akzent, während er den Tee aufkocht. In seinem «früheren Leben» wohnte Eric in einer 5½-Zimmer-Luxuswohnug am Zürichsee, ruhte in federweichen King-Size-Betten rund um den Erdball und verköstigte sich mit Delikatessen: Er war Kadermitglied bei der Schweizer Rückversicherungsgesellschaft, die auch das World Trade Center versicherte. Zeitgleich mit den Zwillingstürmen fiel am 11. September 2001 auch Erics Weltbild in sich zusammen. Das kapitalistische System stürzte nach seiner Auffassung ein wie ein Kartenhaus im Wüstensturm. «Ich wollte aufrütteln und das Ende der Finanzwirtschaft verkünden, doch das wollte keiner hören». Schon gar nicht sein Arbeitgeber: Am letzten Arbeitstag warf ihn die Security raus. Er stand nicht mehr hinter dem, was er tat; «ich war nicht mehr derselbe Mann». Zukunftsängste trieben ihm nachts den Schweiss auf die sorgenvolle Stirn; er floh nach England vor dem Pechschwarz, das er sah.
«Das Urtümliche macht vielen Menschen Angst.» Eric Alan Westacott-Hari
Statt der erhofften Heimat, fand er ein Buch über den Jakobsweg. 2003, mit 40 Jahren, verschenkte er sein Hab und Gut, reiste nach Frankreich und parkte sein Auto. Auf den Zettel, den er unter die Scheibenwischer klemmte, malte er ein Herz und schrieb: Ich bin auf dem Jakobsweg und weiss nicht, wann ich zurückkomme. Seine Pilgerreise begann er mit nichts als einem kleinen Rucksack, einem Werbegeschenk seines früheren Arbeitgebers. «Ich wusste nun, dass ich mit nichts überleben kann. Auch im Saustall übernachten, aber komfortabel ist das nicht», begründet Eric, warum er das Auto nach seiner Rückkehr gegen einen Wohnwagen eintauschte. Fortan kümmerte er sich auf dem Jakobsweg um Pilgernde. Bis ihm jemand ans Herz legte, er solle zum «Dorf ohne Gesetz» fahren. «Ich traf dort einen Haufen Hippies, bei denen wollte ich sicher nicht bleiben», erzählt er und fährt sich durch das silbergraue Haar. Er zog von dannen, den Hügel hinauf, doch er kam nicht weit: Seine Räder blieben in der Erde stecken, was ihn zum Umkehren zwang. Vier Jahre blieb Eric im Aussteiger-Dorf. «Was macht ein Schweizer dort? Die Demokratie einführen! Sie wurde mir später selbst zum Verhängnis, als ich nach vier Jahren vom Dorf verbannt wurde – ein demokratischer Entscheid!», schildert Eric die Ironie der Geschichte und lacht tief aus dem Bauch heraus, der ihn weiterhin auf seiner Odyssee leitete. Er hauste in einem verlassenen Militärbunker, zog mit einer Pferdekarawane durch Spanien und wanderte unter glühender Sonne durch die Sahara, um nur einige seiner Stationen zu nennen. Doch sein Durst nach Abenteuer trocknete allmählich aus, sodass er nach über 10 Jahren in die Schweiz zurückkehrte. Zwei Winter verbrachte der Geldlose in den alpinen Gipfeln, eingemummelt in Felle, an den drei Lagerfeuern, die ihn am Leben hielten. «Es ist für viele unvorstellbar, aber man lebt bestens ohne WC-Papier und Zahnpasta. Die Natur schenkt uns gute Alternativen.» Vor drei Jahren wurde der ewige Wanderer sesshaft: Mithilfe seiner Verwandten bezog er ein einfaches Holzhaus am Waldrand von Steffisburg. Zusammen mit seiner Frau bietet er Kindern Erkundungstouren im Wald, stellt Salben und Seifen aus Heilkräutern her, oder lehrt das Bogenschiessen. «Wir sollten die Verbundenheit mit der Natur zulassen, sie gibt uns Kraft», sagt der «Oberländer Indianer» mit Nachdruck. «Der Wald ist kein finsterer Ort mit Stolperwurzeln und Stechmücken, vor dem man seine Kinder schützen muss!» Sein Vorhaben, die Workshops bei schlechtem Wetter in die alte Scheune seines «Höfli» zu verlegen, scheiterte an der fehlenden behördlichen Bewilligung – das «kapitalistische System» hat ihn zwar eingeholt, ist aber nicht bis zu seinem Herz vorgedrungen: Eric Alan Westacott-Hari ist und bleibt ein «Aussteiger».
Thomas Kämpf: Von der Niederlage zum Gipfelpunkt – fast In einem Holzchalet, thronend über dem Thunersee, wohnt Thomas Kämpf. Vor rund zwei Jahren war im guten Holz, aus dem seine Karriere geschnitzt war, auf einmal der Wurm drin: Ein Chefwechsel und plötzlich war alles, was jahrelang super war, nicht mehr gut genug. «Ich empfand es als Niederlage, nach 13 Jahren nicht mehr erwünscht zu sein. Das musste ich erst einmal verdauen», sagt der erfolgreiche HR-Leiter heute. Thomas schmiedete Wunschträume, anstatt sich den Kopf über seine berufliche Zukunft zu zerbrechen – vorerst. Er beschloss, zu verwirklichen, wovon er längst geträumt hatte und unternahm drei Reisen: Er kurvte mit dem Mietauto durch die Nationalparks in Amerika, erklomm den mystischen Kilimandscharo in Afrika und spürte auf einem Segeltörn den griechischen Wind im Haar. In der Ferne gelang es ihm, sich von seiner ungewissen Zukunft zu distanzieren: «Ich nahm mir diese Auszeit und ging gedanklich nicht darüber hinaus.» Monate später begann er mit der Stellensuche, die sich harziger gestaltete als erwartet. Die Idee reifte heran, nun das Haus zu renovieren, das einst sein Grossvater baute. Rund ein halbes Jahr lang plante, hämmerte, bohrte und malte der gebürtige Thuner und genoss das Werken mit blossen Händen, als Ausgleich zu seiner sonst kopflastigen Arbeit. Schliesslich traf er auch bei der Jobsuche den Nagel auf den Kopf. Doch es sollten noch sieben Blätter des Monatskalenders fallen, bis er seine neue Stelle antreten konnte. Der begeisterte Bergsteiger nutzte die Gunst der Gegebenheiten, packte den Trekkingrucksack und flog nach Tibet, um sich einer Himalaya-Expedition anzuschliessen. Nach Wochen der körperlichen und mentalen Annäherung an den Achttausender stand Thomas und seiner Gruppe die Gipfelbesteigung kurz bevor.
«Ich wäre lieber an mir selber gescheitert, als an den äusseren Umständen.» Thomas Kämpf
Dann brach eine andere Expedition, der sich spontan auch der Emmentaler Extrembergsteiger Ueli Steck anschloss, aus dem Basislager auf und wagte den ersten Gipfelversuch. 100 Meter unter dem Gipfel lösten sie eine Lawine aus, die Unberechenbarkeit des Berges verschluckte zwei der Spitzenalpinisten – und erstickte damit Thomas‘ Traum, dereinst selbst auf dem Gipfel zu stehen. «Ich wäre lieber an mir selber gescheitert, als an den äusseren Umständen», beschreibt der 42-Jährige sein Hadern am Himalaya. Seine Lücke im Lebenslauf, vor der sich der HR-Profi nie gefürchtet hat, ist ausgefüllt mit grossen Erlebnissen. «Als ich den Leuten während der Auszeit erzählte, was ich mache, schauten sie mich verwundert an. Spreche ich heute davon, ernte ich Bewunderung», beschreibt Thomas. Seit Januar arbeitet und wohnt er in Zürich, doch am Wochenende entflieht er in sein Chalet mit Blick auf den Hafen von Merligen, wo sein Boot schaukelnd wartet. Während seiner langen Auszeit hat er das erschaffen, was ihm heute kurze Auszeiten ermöglicht – immer, wenn ihm danach ist.
Tipps für Teilzeit-Aussteiger
Wieder einmal Kopf und Handy abschalten, die gewohnten Gefilde verlassen und die Wurzeln unter den Füssen spüren …
Rückzugsort Für erholsame Tage, fernab vom flimmernden Bildschirm, ist das «Hüttli» in Frutigen das ideale Dach über dem Kopf, der sich rasch vom Alltagsstress befreit: Ohne Strom und ohne Internet, dafür mit reichlich Charme lockt das abgeschiedene Holzhaus aus dem Jahr 1787 jene, die das Einfache suchen. Der Holzofen sorgt für wohlige Wärme, Kerzen und Petrollampen für romantisches Flackerlicht. Bergpanorama und Brunnenwasser inklusive!
Survival-Kurse Wer Bogenschiessen in indianischer Manier seinen Kindheitstraum nennt, schamanische Trommeln mitreissend findet, die Schätze der Natur entdecken und wissen möchte, wie man in der Wildnis überlebt, sollte sich auf den «Urpfad» begeben! Das erfahrene Team führt Sie in das Leben in und mit der Natur ein, was Ihnen einen neuen Zugang zu dieser eröffnet. Eine Notunterkunft bauen, Feuer ohne Hilfsmittel entfachen und weitere spannende Lehren, inspiriert von Naturvölkern aus aller Welt, erwarten Sie im Tipi-Camp in Krattigen. Infos und Kursdaten
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