Gesammelt statt erlegt: Der Mensch sammelt seit der Urzeit – einst Steine und Beeren, heute Sonnenbrillen wie etwaMusiker «Greis», Bierdeckel oder Fingerhüte. Was ursprünglich das Überleben sicherte, ist jetzt unbändige Leidenschaft, die nimmer nachlässt.

Ah, diese Silhouette! … und der handgefertigte, vergoldete Rahmen mit geschraubter Edelstahl-Blende, wow … », schwärmt er mit langgezogenem O, als würde er von einer Geliebten erzählen. Geliebt – das ist sie auch, die legendäre «Alpina». Sie hat aber nicht etwa zwei Beine, sondern zwei Bügel: Eine Pilotensonnenbrille, die in den 80er-Jahren auf Nasenrücken wie jenem von Stevie Wonder thronend Kultstatuts erlangte. Sie ist ein Tausendstel des Schatzes, den er in antiken Schiffskoffern aufbewahrt. Sorgfältig eingereiht, als wären es die Goldbarren der Nationalbank. «Sammeln ist obsessiv und deshalb wohl etwas Männliches», vermutet Grégoire Vuilleumier, besser bekannt als Rapper «Greis». Kaum ist der Satz ausgesprochen, korrigiert er sich. «Wahrscheinlich sammeln auch Frauen, aber im stillen Kämmerlein. Männer tragen ihre Besitztümer offen zur Schau, zumal sie einen grösseren Geltungsdrang haben», meint er und richtet seinen Blick auf die Sonnenbrillen, die vor ihm auf dem Tisch liegen – sechs seiner Lieblingsstücke. Warum tragen Menschen bestimmte Dinge zusammen? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, nicht einmal für jene, die selbst passionierte Sammler sind. Wie Greis, der uns mit seinem letzten Soloalbum «Hünd i parkierte Outos» genauso breite wie tiefsinnige Berner Rhymes in die Lauscher bellt und sich selbst als «Rap-Dinosaurier» bezeichnet. Von wegen Relikte: Wie beinahe jedes Kind sammelte er schon als bebrillter Dreikäsehoch und machte Dinosaurier-, Velo- oder Walfischphasen durch. Auch im erwachsenen Sammler steckt das begeisterungsfähige Kind, das sich vor der Vitrine selbstvergessen die Nase plattdrückt, ob den Begehrlichkeiten, die es zu ergattern gäbe. «Es führt zu nichts» Sammeln ist ein überraschend präsenter Urinstinkt, geht man davon aus, dass jeder Dritte eine Sammlung hegt. Es sind überwiegend Männer – die einstigen Jäger der Steinzeit! Grégoire wurde durch einen Zufallsfund zum Sonnenbrillen-Schatzsucher: In einem Shop in New York fiel ihm ein ungewöhnliches Modell in die Hände. «Old School, Run DMC, eine Cazal», liess der Ladenbesitzer Stichworte fallen wie ein Baum überreife Früchte. Obwohl dieses Modell eine Fälschung war, pikste die eckige Form Grégoires kulturelles Gedächtnis wach: Erinnerungen, zum Beispiel an seine Anfänge als Rapper, und die damit verreimten Emotionen. Durch diese Brillenmarke, die ihn reizte, weil er sie mit der Hiphop-Kultur verband, taten sich ihm weitere Galaxien im Vintage-Brillenuniversum auf. Er begann Modelle von anderen Labels wie Dior oder Alain Miki zu sammeln, allesamt aus der Zeit von 1979 bis 1991. Binnen neun Jahren ist seine Sammlung auf stolze 1000 Exemplare angewachsen. Nummer 1001 wird es nicht geben: Sobald er ein Design ergattert, das er mehr liebt als ein anderes, verkauft er eine Brille – mit bluttropfendem Sammlerherz, versteht sich. «Ich baue eine emotionale Beziehung zu den Objekten auf», so der Sonnenbrillenfreak. «Ob mir eine Brille steht, ist zweitrangig. Ausserdem sind manche Modelle untragbar. Die Welt braucht sie nicht, ich aber liebe sie!» Seine Sammlung zu betrachten, ist für ihn pure Erholung. Eine kontemplative Tätigkeit, bei der er stiller Zuschauer statt lauter Akteur ist. «Es führt zu nichts, ich ergötze mich an deren Ästhetik.» Nicht zuletzt dank der Sonnenbrillen sei seine Musik so entspannt.
Quer im Quartierladen Wer Greis mit einem spektakulären Brillengestell erspähen will, passt ihm am besten vor der Migros ab: Damit die originalen Markierungen an den Innenbügeln durch Schweiss und Schmutz nicht verblassen, trägt er sie nur kurz, sei es zum Einkaufen. Seine Verfassung lässt sich indes von der Fassung ablesen. Ist er in sich gekehrt, maskiert er sich mit schlichten, gefälligen Sonnengläsern. Fühlt er sich heiter, setzt er sich ein ausgefallenes Modell auf die Nase – diese steckt er übrigens in jedes Optikergeschäft hinein. Konzerte an Montagen sind ihm zuwider, da die meisten Brillenläden geschlossen sind. Damit er durch seine Jagdgebiete pirschen kann, verzichtet er gar auf die gemeinsame Anreise mit seinen Bandmitgliedern im Tourbus. Die schönste Beute macht er oft unverhofft. Auf einem Flohmarkt, 1000 Brillenbreiten vor seiner Haustür, wühlte er in einer Kiste … und zog unter einem Dutzend anderer Brillen eine rare «Cartier Diabolo» aus dem zähen Staub. Rund, schwarz und mit Elementen, die so golden funken wie einer seiner Zähne. «Ich bin ausgeflippt vor Freude, das war einer der schönsten Momente in meinem Leben», erinnert er sich. Wer ihm durch die getönten Gläser in die Augen schaut, zweifelt keine Sekunde daran.
«Die Jagd nach einer Sonnenbrille erfüllt mich mehr, als sie zu besitzen.»
Grégoire Vuilleumier alias «Greis»

Der Berner Musiker sammelt seit 2007 nicht nur fabrikneue Vintage-Sonnenbrillen aus den Jahren 1979 bis 1991, sondern auch das Wissen dazu. Um an seine Objekte der Begierde zu gelangen, ist ihm kein Spaziergang zu weit. Foto: Remo Neuhaus
Von der Sammellust «angezapft»
Ebenso strahlend sind auch Rosmarie Büchlers Augen, wenn sie von ihrer Sammelleidenschaft erzählt. Bis zu jenem Tag im Jahr 1973, an dem sie bei einer Brauereiführung den Goldtrunk zum ersten Mal kostete, mochte sie gar kein Bier. Das geziemte sich sowieso nicht für eine Frau. Als hätte ihr jemand den Spleen in die Stange gemischt, «infizierte» sie sich an besagtem Tag mit dem «Sammler-Syndrom». Seit nunmehr 40 Jahren schart sie alles um sich, was mit Bier und insbesondere mit ihrer Lieblingsmarke «Feldschlösschen» zu tun hat. «Sammelei ist eine Krankheit, von der man nicht mehr loskommt. Das Sammlerherz setzt sich gegen den Verstand durch», scherzt die bald 80-Jährige. Zweimal ging sie mit ihrem Mann auf Tournee durch die Schweiz und sammelte bei den Brauereien Gläser ein. Heute schmücken rund 230 Gläser die vielen Vitrinen in ihrem Wohnzimmer. «Entweder ganz oder gar nicht», sagt Rosmarie, nicht ohne Pathos. Für sie als selbstständige Buchhalterin sei das Bier stets der perfekte Ausgleich zu den trockenen Zahlen gewesen. Zur Feier ihres 50. Geburtstags lieh sie eine Zapfanlage aus – und mochte sie eigentlich gar nicht zurückgeben, derart fasziniert war sie vom Bierausschenken. «Zapfen kann längst nicht jeder», ist sie überzeugt, «es braucht Fingerspitzengefühl und Wertschätzung gegenüber dem Getränk». Geht es um die perfekte Schaumkrone, kann ihr keiner etwas vormachen. Um diese Kunst selbst zu erlernen, besuchte sie nicht etwa einen Kurs, sondern setzte sich öfters an eine Bar, um den Kellner beim Zapfen mit Adleraugen zu beobachten. Seit sie sich ihre eigene Zapfanlage angeschafft hat, schenkt sie für die halbe Nachbarschaft kühle Blonde aus, sei es zuhause in Bern oder auf dem Campingplatz am See, wo sie ihre Sommer verbringt. «Bier säuft man nicht, sondern geniesst es», sagt Rosmarie mit verschmitztem Lächeln. «Es freut mich, dass heute mehr Frauen den Mut haben, in einer Beiz ein Bierchen zu bestellen als früher.» Ihr Eifer ist mittlerweile weit herum bekannt, sodass viele ihr süffige Souvenirs oder gar Selbstgemachtes schenken, beispielsweise eine Holzuhr in Schlösschenform. Rosmarie ist vernarrt in die Brauereipferde, die einander scheinbar gleichen wie ein Huf dem anderen. Sind sie an der BEA, bringt sie ihnen täglich frische Rüebli. «Ich kenne jedes mit Namen», sagt sie stolz, «und sie kennen mich.» Rosmarie zeigt sie gerne her, die Stofftaschen, die sie mit grossformatigen Pferdeköpfen hat bedrucken lassen. Die limitierten Krawatten, bestickt oder bedruckt, die sie unter der Hand von Vertretern bekommen hat. Den Teppich mit dem Logo ihrer liebsten Brauerei, den sie in 200 Stunden Handarbeit geknüpft hat. Das Nachttischlämpchen aus einem Bierglas, gebastelt von einem Freund. Oder den dreieckigen Wimpel ihres Bierstammes, den sie im einstigen «Metropol» mit ihrem Mann gegründet hatte. Ihr Mann, das Restaurant und der Stamm – das alles ist nicht mehr, der Wimpel als Andenken in ihrem Mini-Museum bleibt … «Das muss sein, sonst fühle ich mich nackt!», lacht Rosmarie und blickt auf ihre Handtasche, an der ein gelber Feldschlösschen-Anhänger baumelt.
«Die Sammelleidenschaft kommt von Herzen, sie hebelt den Verstand aus.»
Rosmarie Büchler

Biersouvenirs machen sie selig: Seit Rosmarie Büchler mit 40 Jahren auf den Biergeschmack gekommen ist, sammelt sie Gläser, Pins und allerhand Bieriges. Die gebürtige Belperin besitzt sogar eine eigene Zapfanlage. Foto: Nadine Strub
Die Welt auf der Fingerspitze Palmen von Santa Monica auf dem Daumen, eine holländische Windmühle auf dem Zeigefinger oder heulende Wölfe aus Alaska am Mittelfinger: Renate Kaiser geht fast täglich auf Weltreise. Jedes Mal, wenn sie in ihren hölzernen Setzkästen kramt, befüllt mit lauter Fingerhüten. Die Kunstwerke auf zwei Zentimetern – teils so kreativ gestaltet, dass sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen – haben es ihr angetan. Wo immer die zweifache Mutter hinreist, ein Fingerhut als Andenken gehört dazu wie die ID ins Portemonnaie. Ihre Sammellust wurde angestochen, als sie anlässlich ihres 30. Geburtstags mit der ganzen Familie das Disneyland Paris besuchte und dort einen Mickey-Mouse-Fingerhut erstand. «Das Souvenir hat mich wohl angesprochen, weil Nähen mein Hobby ist. Ironischerweise verwende ich dazu gar nie einen Fingerhut», sucht sie eine Erklärung, wofür es eigentlich keine gibt. 403 Fingerhüte nennt sie ihr Eigen, mittlerweile vergrössert sich die Sammlung wie von selbst – ob Familie, Freunde oder Bekannte, alle helfen tüchtig mit, Renates Fimmel zu kultivieren, indem sie ihr Fingerhüte von überallher mitbringen. «Mit Freude überreichen sie mir nach den Ferien hübsch verpackte Präsente, dabei ahne ich von vornherein, was drin ist», lacht sie. Ist ihre Sammlung je komplett? «Nein, wie könnte sie! Ausserdem sind Fingerhüte praktisch zum Sammeln, sie passen in jede Hosentasche.» Sie steckt sich ein Porzellanhütchen an den Ringfinger, bemalt mit einem knallgrünen Frosch. «Dieses Exemplar vereint gleich zwei meiner Leidenschaften: Ich sammle nämlich auch noch alles, was grün ist!», bekennt die Belperin fröhlich.
«Ich kann mir nicht vorstellen, jemals nichts zu sammeln.»
Renate Kaiser
«Jeder geliebte Gegenstand ist der Mittelpunkt eines Paradieses», meinte schon der Schriftsteller Novalis. Auch wenn «Uneingeweihte» den Sammlern unterstellen mögen, sie seien bloss verzweifelte Bewahrer von Vergänglichem, Sammler sind glückliche Menschen – solange sie sammeln.