Total regional: 50 Kilometer und keinen mehr – so lautet die Spielregel, die der Executive Chef des Restaurants «Radius» im Hotel Victoria-Jungfrau, Stefan Beer, für sich selbst aufgestellt hat. Das Ziel: erstklassige Produkte aus der Region zu verarbeiten und anzubieten.

Die Grande Dame der Schweizer Luxushotellerie kann eine bereits 150-jährige Geschichte vorweisen. Flaniert man durch das beschauliche Interlaken, kommt man an dem eindrücklichen Gebäude nicht vorbei. Seit kurzem gibt es in seinen Hallen ein neues Restaurant, das den Namen «Radius by Stefan Beer» trägt. Der international erfahrene Koch setzt voll auf die Devise «vo hie»: Aus einem Umkreis von 50 Kilometern sollen die Zutaten stammen. Das «Radius» ist eine Weiterentwicklung des Fine-Dining-Restaurants La Terrasse; dort hatte er bereits die «vo hie»-Devise etabliert, jedoch war das Restaurant bedeutend grösser. Das «Radius» ist mit seinen 30 Plätzen dagegen besonders exklusiv. Diese begrenzte Kapazität ist gewollt – denn so werden optimale Bedingungen für einen noch persönlicheren Service geschaffen. Damit ist eine bessere Konzentration auf den einzelnen Gast möglich, und folglich wird ein Gourmeterlebnis auf höchstem Niveau geboten.

Radiuserweiterung
Im «La Terrasse» war es zuerst nur ein Umkreis von 40 Kilometern, aus denen die Zutaten stammten. In der Konzeptionsphase für das Restaurant «Radius» wurden die Shrimps zu einem «game changer», da ihnen bis dahin Krustentiere noch gefehlt hatten. Da Burgdorf 46 Kilometer vom «Victoria-Jungfrau» entfernt ist, mussten sie den Radius um 10 Kilometer erweitern. Unabhängig davon ob 40 oder 50: «Man setzt sich selbst Grenzen mit diesem Radius und muss auch auf die Suche gehen», so der Küchenchef Stefan Beer. Diese Suche nach den Zutaten inspiriert aber natürlich auch, denn man muss kreativ werden und ideenreich sein. Ausserdem ist das für regionale Produzenten eine grosse und wichtige Angelegenheit. «Das ‹In-den-Fokus-stellen› der Produzenten, zu zeigen, welche Produkte die Region hergibt – das soll der Mittelpunkt des Konzepts sein. Wir sind einfach die, die es nach Aussen tragen», fügt Beer hinzu.

Stefan Beer ist stark mit der Region verwurzelt und möchte mit regionalen Produkten seinen Gästen die Heimat näherbringen und ihnen ein besonderes Erlebnis bieten. Diese Idee entwickelte sich aber erst nach seinem Auslandsaufenthalt. Bei seiner Tätigkeit in verschiedenen luxuriösen Hotels in grossen Städten vermisste er die direkte Verbindung zwischen der Natur, den Produzenten und der Region. Vor seinem Weggang ins Ausland erlebte er die Schweiz mit ihren Produkten als selbstverständlich und wenig spektakulär. Als er zurückkam, entpuppt sich das Berner Oberland als wahres Schlaraffenland für den Küchenchef. So entstand die Idee mit dem regionalen Kochen und er machte sich auf die Suche nach einheimischen Produkten. Im ersten Jahr fanden Beer und sein Team nur in der Region bekannte Produkte. Mit der Zeit entdeckte die Küchenbrigade aber «Spezialitäten» wie Shrimps und Safran. Dabei war die Mutter einer Schulkollegin seines Sohnes eine grosse Unterstützung. Sie ist in der Region aufgewachsen und kennt sie wie ihre Westentasche. Die Einheimische hat ihm eine Liste mit regionalen Bauern, Fischern und Jägern zusammengestellt. Zu Beginn zeigten diese aber eher Zurückhaltung und zweifelten daran, ob sie den hohen Qualitätsansprüchen des «Victoria-Jungfrau» gerecht werden können. Mit der Zeit gewann das Team vom «Radius» aber das Vertrauen der Produzenten, und so kommen seither immer mehr Produzenten und deren Produkte dazu. Gefördert wird dies dadurch, dass ihnen Produzenten von Einheimischen oder anderen Produzenten vorgeschlagen wurden. So konnte das Team beginnen, Produkte in Auftrag zu geben. Sandra Gertsch, eine Geflügelproduzentin, schlug Stefan Beer vor, Perlhühner zu züchten. Die Perlhühner sowie andere qualitativ hochwertige Produkte stammen alle von regionalen Produzenten, zu denen das Küchenteam eine persönliche Beziehung pflegt. Dadurch steigt die Wertigkeit des Gerichts. Übrigens bietet das «Radius» nicht nur Fleisch- und Fischgerichte, sondern auch ein veganes «vo hie»-Menu und eine Option zum Teilen an. Die Auswahl an Produkten ist mittlerweile sehr breit gefächert: «Beim Menüschreiben muss ich schauen, wie ich die Produkte optimal kombiniere, damit das Gericht funktioniert.»

Inspiration
Begegnungen mit Produzenten inspirieren Stefan Beer zu Gerichten. Aber auch andernorts findet er Inspiration für seine kulinarischen Kreationen. Manchmal fliegen ihm die Ideen einfach zu und er sieht die Gerichte bereits vor sich, manchmal dauert es länger, weil das letzte Puzzleteil fehlt. «Wenn ich nachts nicht schlafen kann, auf dem Velo, beim Spaziergang mit meinen Kindern, in den sozialen Medien …» – Ideen trägt er konstant zusammen. «Eines Tages unternahm ich einen kleinen Streifzug durch den Kräutergarten. Ich fand Lindenblüten und einige reife Himbeeren – optisch eine schöne Kombination, so hat sich das Gericht wie von allein ergeben.»
Seine Ideen schreibt Stefan Beer dann jeweils auf. Diese sind aber selten für ein Gericht per se, sondern vielmehr für die Geschichte dahinter, die er sich ausdenkt. «Ich will eine Geschichte erzählen, ich möchte die Gäste auf eine Reise mitnehmen, die Leute unterhalten und Erinnerungen kreieren. Die Gäste sollen im «Radius» einen unterhaltsamen Abend mit Entertaiment geniessen können. Sobald Stefan Beer seine Geschichte gefunden hat, kreiert er das dazu passende Menü. «Die Geschichte dahinter macht das Gericht und nicht umgekehrt.»
An den Gerichten, die momentan auf der Speisekarte stehen, hat die Küchenbrigade seit dem Frühsommer in irgendeiner Form gearbeitet. Die kulinarischen Kreationen durchlaufen viele verschiedene Stadien und werden mehrmals angepasst, bevor sie dem Gast serviert werden. Es wird herumgebastelt, bis zur Perfektion. Trotzdem gibt es etwas, womit Stefan Beer Mühe hat: loszulassen und so Platz für ein neues Gericht zu schaffen. Das momentane Menü ist so durchdacht, dass er es eigentlich nicht ändern möchte. Aber ein Wechsel der Karte ist für Stefan Beer notwendig, gerade wenn man regional und saisonal kocht. Wichtig bei der Planung ist auch die Frage, wie das Gericht bei den Gästen ankommt: «Ich plane und denke die Sachen genau durch und lasse nicht los, bis ich wirklich das Gefühl habe: ‹so ist es richtig, so muss es sein.› Es gibt immer ein, zwei Gerichte, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob sie auf Anklang stossen. Zu 90 Prozent sind es im Nachhinein diejenigen, die den Gästen am besten gefallen haben.» Geändert hat sich in seinen Jahren als Koch vor allem seine Herangehensweise beim Kochen. Früher dachte er, je komplizierter, desto besser; und wollte die verschiedensten Küchen miteinander kombinieren. Mittlerweile hat sich seine Haltung geändert. Dem Küchenchef ist wichtig, jenes zu kombinieren, das in der Region wächst und produziert wird. Er setzt so vor allem auf qualitativ hochstehende Produkte aus nächster Umgebung, vollendet mit dem, was die einheimischen Zutaten ins beste Licht rückt.

Lokal vegan
«Wir haben das ‹Menü vo hie› und das ‹vegane Menü vo hie›.» Letzteres ist eine Folge des Lockdowns. Es ist sehr aufwändig, auf diesem Niveau vegane Gerichte zu kreieren, denn diese erfordern eine komplett andere Herangehensweise. So hat das Team die Zeit während des ersten Lockdowns intensiv dazu genutzt, sich mit der rein pflanzlichen Kochweise auseinanderzusetzen. «Die vegane Alternative hat super Anklang gefunden. Die Gäste haben dann begonnen zu mischen: vegane Vorspeise, nicht-vegane Hauptspeise.» Bei der veganen Küche stellt sich für den Küchenchef jeweils die Frage, welches Produkt der Star ist. Wenn man Shrimps auftischt, stehen diese klar im Mittelpunkt. Doch bei Gemüse? Welches davon soll in den Fokus gerückt werden? Diese Entscheidung fällt ihm schwer, bereitet ihm aber auch Freude. «Wenn man auf diesem Level vegane Optionen anbietet, aber kein veganes Restaurant ist, zeigen sich vegane Gäste extrem dankbar. Sie freuen sich, dass auch unser veganes Menü sehr durchdacht ist.»

Der passende Wein
Bei einem mehrgängigen Menü darf der Wein natürlich nicht fehlen. Der Sommelier Torsten Noack sorgt mit den besten Tropfen aus dem Kanton Bern für das Weinwohl. Der Wein und das Essen müssen harmonisch aufeinander abgestimmt sein. Teilweise wird nicht der Wein dem Gericht angepasst, sondern das Gericht dem Wein. Der Sommelier wählt qualitativ hochstehende, oft unbekannte Weine aus der Region aus. Darunter gibt es auch welche, die einige Gäste überraschend finden könnten. Doch diejenigen, die sich darauf einlassen, werden ein gut abgerundetes Ensemble serviert bekommen.
Die Zusammenarbeit mit Stefan Beer empfindet Noack als sehr spannend. Beer hat ein offenes Ohr und gibt Spielraum. Ebenso schätzt Noack das Entgegenkommen der Küche, wenn es um die Kombination von Wein und Gericht geht. Von der «vo hie»-Devise des Restaurants war Torsten Noack von Anfang an begeistert. «Es ist nicht einfach nur ein Essen, es ist Entertainment.»
Neue Massstäbe
Das Konzept des «Radius» soll die Leute zusammenbringen. Das zählt für die Gäste und für das Team um Stefan Beer gleichermassen: «Ich möchte Unterhaltung bieten und eine Geschichte erzählen. Das kann ich nur, wenn wir als Team funktionieren und einander vertrauen.» Die Menükarte und das Restaurant im Allgemeinen sind Stefan Beers Spielplatz. Kreative, reduzierte, nachhaltige und moderne Gerichte mit Zutaten von regionalen Produzenten zeichnen das «Radius» aus. Sich in der Spitzengastronomie derart auf die regionale Herkunft der Zutaten zu fokussieren, setzt neue Massstäbe.

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